Das Jahr neigte sich seinem Ende entgegen und die Tage wurden immer kürzer. Weihnachten stand vor den Tür. Draußen war es ungemütlich und kalt. Nasser Schnee wirbelte aus den grauen Wolken und legte eine matschigweiße Decke über die Häuser und Straßen. Kein Mond erhellte mit seinem blassen Licht den Himmel. Eisiger Wind fuhr fauchend über Stadt und Land.
Ein Mädchen ging auf der Straße von Wendorf in Richtung Zierow, sie wollte nach Hoben und hatte den Bus verpasst. Auf den Nächsten wollte sie nicht warte und so weit war das nun auch nicht von Wendorf bis Hoben. Sie hatte sich den Rucksack umgehängt und die Mütze tief in die Stirn gezogen. Die Mütze war knallrot und leuchtete selbst bei diesen trüben Wetter. Dann sehen mich die Autos wenigstens und fahren mich nicht um, dachte sie. Die Mütze hatte ihr die Großmutter gestrickt und alle nannten das Mädchen jetzt immer Rotkäppchen.
Plötzlich bekam Rotkäppchen einen Schubs von hinten. Sie stolperte und sah sich erschrocken um. Hinter ihr stand der Wolf und schaute sie erwartungsvoll an. „Wo gehst du denn hin bei diesem fürchterlichen Wetter?“, fragte er lauernd. „Ach, weißt du Wolf, ich wollte meine Großmutter besuchen und der Buss ist mir vor der Nase weggefahren. Großmutter ist krank und ich habe ihr bei Marktkauf einen kleinen Stollen gekauft. Den isst sie so gern in der Weihnachtszeit“, antwortete das Mädchen.
„So, so, das ist aber traurig, dass deine Großmutter krank ist, sie liegt bestimmt im Bett“, murmelte der Wolf. Das kommt mir gerade recht, dachte er und in selben Moment begann sein Bauch zu knurren. „Weißt du was“, sagte er, „ich komme mit und beschütze dich auf dem dunklen Weg. Wir besuchen gemeinsam die Großmutter, darüber freut sie sich bestimmt.“ Na, das lohnt sich doch wenigstens und ich werde endlich wieder satt, dachte erfreut der Wolf. „Ja“, sagte Rotkäppchen, „das ist eine gute Idee. Die Großmutter hat es ganz doll erwischt. Sie hat eine richtige Grippe mit Husten, Schnupfen, Halsweh und hohem Fieber, eine echte Virusgrippe. Wir müssen nun aber weiter, sonst kommen wir heute nicht mehr an.“
Der Wolf hörte nur das Wort Virusgrippe und wich erschrocken zurück. Zitternd schaute er Rotkäppchen an.
„Ich bin aber noch nicht gegen Grippe geimpft. Dann kann ich doch die Großmutter gar nicht fress…, ich meine besuchen.“ Misstrauisch fragte er dann „und du, hast du dich vielleicht auch schon angesteckt, dann sollte ich dich auch nicht…?“ Vorsichtshalber wich er noch einen Schritt weiter zurück. Der Wolf drehte sich rasch um,
„weißt du Rotkäppchen, ich denke wir lassen das für heute. Ein anderes Mal komme ich gern mit“, und damit verschwand er.
Und sein Bauch knurrte wieder.
So ein Pech, dachte der Wolf, ich finde einfach nichts zu fressen. Es ist wirklich schwer, als Wolf heutzutage zu überleben. Ich habe schon so lange nichts mehr zu fressen bekommen, dass ich schon ganz mager und kraftlos bin. Es ist wie verhext. Wo ich doch schon überall gesucht habe. Rotkäppchen und die Großmutter sind verseucht, der Hase und der Igel laufen immer noch über das Feld und wenn ich die fangen will, bleibe ich bei diesem Wetter bloß im Matsch stecken. Hänsel und Gretel haben gerade mit der Hexe zu tun, die muss dringend in den Ofen, und bis die zähe, alte Krücke fertig gebraten ist, bin ich verhungert. Vom Tischlein deck dich bekomme ich auch nichts ab. Der alte Schneider und seine Söhne holen nur den Knüppel aus dem Sack und verprügeln mich. Der Wolf seufzte. Das zarte, schöne Kind Rapunzel mit dem langen Zopf aus dem Fenster, ist auch nicht mehr da. Es lebte lange Zeit im Turm des Gymnasiums in Bad Doberan. Als ich nun endlich klettern gelernt hatte, war es ausgewandert. Wieder jammerte und heulte der Wolf über sein Schicksal. Mit krummem Buckel schlich er des Wegs. Wenn ich nicht verhungern will, muss ich wohl doch noch vom süßen Brei essen, der immerzu aus dem Topf quillt, dachte der Wolf unglücklich. Davon ist genug da, aber ich hasse süßen Brei. Mir wird nur bei dem Gedanken daran schon ganz übel.
Auf einmal hielt der Wolf inne und dachte, ich weiß wo ich satt werde. Er richtete sich auf, die Augen begannen zu leuchten, das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Es ist doch ganz einfach, ich geh` zu den sieben Geißlein. Sofort machte sich auf den Weg. Weit musste er laufen, bis auf die andere Seite von Wismar. Die Ziegen hatten in der Nähe des Salzhaffs ein schönes Anwesen mit ausgedehnte Weiden und saftigem Gras. Davon waren die Geißlein bestimmt gut genährt und fett. Bei dem Gedanken knurrte sein Bauch gar grimmig.
Endlich war er angekommen. An der Tür lauschte er auf die Geräusche, die von drinnen zu hören waren. Teller klapperten, die Geißlein lachten und schwatzten munter herum.
Der Wolf klopfte an die Tür.
Es wurde still. Ein Geißlein öffnete vorsichtig ein wenig die Tür und schaute heraus. „Oh, es ist der Wolf“, rief es in die Stube, „und sein Bauch knurrt ganz laut. Der hat bestimmt Hunger.“ Die Geißmutter kam an die Tür. Mitleidig sah sie den mageren, zitternden, frierenden Wolf an. „Wir haben gerade eine frisch gebratene, köstliche, knusprige Gans auf dem Tisch“, sagte sie. „Die hat zwar der Fuchs gestohlen, aber wir haben ihn gewarnt, dass wir den Jäger holen werden. Da hat er uns die Gans da gelassen. Du bist herzlich eingeladen mitzuspeisen“, meckerte die alte Geiß.
Der Wolf ließ sich nicht lange bitten. Was soll`s dachte er, setzte sich an den Tisch, aß mit von der Gans, die der Fuchs gestohlen hatte und feierte mit den sieben Geißlein Weihnachten.
Originally posted 2020-12-12 08:02:00.