Der Tannenbaum stand mitten in der Stube. Er war groß, gerade gewachsen und seine dunkelgrünen Nadeln verströmten einen frischen, aromatischen Duft nach Wald. Sie glänzten matt und die Zweige streckten sich kraftvoll nach allen Seiten.
Der Vater hatte ihn in einen festen Ständer gezwängt und so konnte er nicht mehr umfallen. Die Kinder hatten den Baum am Nachmittag wunderschön geschmückt mit Kugeln, kleinem Holzspielzeug, Strohsternen, Kerzen und Lametta wie in jedem Jahr.
Der Tannenbaum sah sich nach allen Seiten um. Er freute sich auf morgen, da würde sein großer Tag sein. Die Bäume im Wald erzählten die wunderbarsten Dinge vom Weihnachtsabend. Nun war es für ihn soweit … es wurde Nacht und der Mond schaute neugierig in das Fenster.
Zwischen den Zweigen begann ein leises Rascheln und Gemurmel. Eine Goldkugel schubste ihre Nachbarin an, „hallo Silberkugel, schön dich wiederzusehen. Du bist noch genauso blank, wie im letzten Jahr.“
„Ach Goldkugel, musstest du mich wecken? Ich war gerade eingeschlafen oder ist schon Weihnachten?“
„Nein, nein“, sagte die Goldkugel, „aber wollen wir nicht mal sehen, wer von uns in diesem Jahr am Weihnachtsbaum hängt? Ich bin immer so neugierig. Sieh doch mal, das Lametta schläft an den Zweigen, die Kerzen und die elektrischen Schneesterne auch.“
„Huhu, ich bin auch da“, juchste ein winziges, buntes Holzschaukelpferd und schaukelte schwungvoll an seinem Zweig. Von der anderen Seite des Baums kam eine weinerliche Stimme.
„Uns haben sie einfach so an den Baum gehängt, ohne sauber zu machen“, schämten sich die schönen blauen Kugeln mit den Glitzersternen. „Wir wollten nicht aus dem Karton kommen und haben den Deckel von innen festgehalten, aber das hat nichts genützt.“
„Warum sollten sie euch sauber machen“, fragte die Goldkugel.
„Weil, wir sind alle noch mit Wachs bekleckert.“
Die Silberkugel drehte sich langsam im Kreis. „Lasst mich nachdenken, ja ich hab`s, der Tannenbaum muss mit seinen Nadeln das Wachs abschubbern.“ Der Baum brummelte so etwas wie ´das ist nicht meine Aufgabe´, aber er kratzte dann doch mit seinen Nadeln fast das ganze Wachs ab. „Siehst du, geht doch“, das winzige, bunte Schaukelpferdchen freute sich über die glänzenden Kugeln.
„So etwas kann mir nicht passieren. Ich bin immer in einer Schachtel für mich allein, in Seidenpapier gewickelt und ich komme nie in die Nähe von Kerzen“, eine riesengroße, bunt bemalte Glaskugel schaukelte im Wintergarten an einem langen Band von der Decke, „ich bin was Besonderes.“ „Natürlich, Fräulein Glaskugel Rührmichnichtan, dass du überhaupt mit uns redest“, brubbelte der dicke, mit Glitzer bestäubte Tannenzapfen, der an einem der unteren stärkeren Zweige hing. Er wollte gerade anfangen sich mit der Glaskugel zu streiten, als zarte Stimmchen ihn unterbrachen. „Wir haben ein ganz anderes Problem“, wisperten die filigranen Strohsterne. „Seht mal, was da noch am Baum hängt, so was Hässliches habt ihr noch nicht gesehen. Die passen nicht zu uns“, die Strohsterne schüttelten sich. Dann sahen es alle. Am Baum hingen schreiend bunte, in grellen Farben leuchtende Kugeln und, der Gipfel, kitschig bunte Fische mit blöden Gesichtern. Ein gemeinschaftlicher Aufschrei ging durch den Baum. Nein, das ging nun gar nicht. Die Glaskugel im Wintergarten lachte hämisch. „Das merkt ihr jetzt erst, die habe ich schon längst gesehen…na, ich hänge ja Gott sei dank nicht bei euch am Baum“. Die Schar betrachtete missmutig den kitschigen Neuzugang. „Wir müssen was unternehmen. Wir brauchen solchen Trödel nicht. Hier in dieser Familie ist es Tradition, dass der alte Schmuck wieder aufgehängt wird.“, murmelte der dicke, glitzerbestäubte Tannenzapfen. „Wir müssen die hässlichen Neuen, vor allem die Fische, vom Baum verscheuchen“, flüsterte er. Alle waren sich einig. „Tannenbaum, du musst die Neuen abschütteln, los!“ Das Lametta und die Lichterkette kreischten entsetzt auf und brachten sich in Sicherheit. Dann drängelten, schubsten und stießen alle die häßlichen Neuen und der Tannenbaum schüttelte die Äste, an den die bunten Dinger hingen, so lange, bis sie in tausend Scherben auf dem Boden lagen. „So, die sind wir los“, freute sich eine kleine goldene Posaune.
Die Tür ging auf und die Eltern kamen in das Zimmer, um die Geschenke unter den Baum zu legen. „Himmel, wie sieht das hier aus. Warum sind denn die Kugeln alle kaputt und die schönen Fische“, die Mutter konnte sich gar nicht fassen. „Na, schön waren die nicht. Du hast die doch nur genommen, weil die Nachbarin sie Dir aufgedrängelt hat. …Aber… wie kann das passiert sein, hier war doch niemand im Zimmer.“ Der Vater sah den Baum nachdenklich an. Ihm schien, als bewegten sich die Zweige ein wenig und er meinte ein feines Kichern zu hören. Er schüttelte den Kopf, „so ein Bödsinn, das gibt es doch nicht“, dachte er, aber dennoch betrachtete er zweifelnd den Baum.
„Sieh mal“, sagte er dann, „ein Karton ist unter den Sessel gerutscht, den kenne ich gar nicht, den haben wir noch nie aufgemacht.“ Die Mutter öffnete den Karton und darin lagen wunderschöne dunkelrote Kugeln und eine passende Tannenbaumspitze. „Ja, jetzt erinnere ich mich, die sind noch von meiner Oma. Diese Kugeln sind schon sehr alt, aber sie sehen trotzdem viel, viel schöner aus“, verträumt schmückte die Mutter die leeren Stellen am Baum.
Die Kerzen wurden angezündet, die elektrischen Schneesterne angeschlossen und der Weihnachtsbaum mit seiner rot leuchtenden Spitze erstrahlte über und über in festlichem Glanz. Die Kugeln schimmerten und glitzerten, es schien als lachten sie. Leise erklang ein Glöckchen.
Es war Weihnachten.
Originally posted 2020-12-12 09:52:00.