Es war einmal – so fängt auch diese Geschichte an.
Es war einmal eine Zuckerzange. Sie wurde in einer kleinen Silberschmiede geboren. Ein Silberschmied, Meister seines Handwerks, schlug sie aus einem kleinen Silberklumpen. Die Form wurde mit dem Hammer bearbeitet und es wurde eine längliche, sehr dünne Platte daraus. Noch sah sie uninteressant aus. Doch dann ging der Meister feiner ans Werk. Die Platte wurde ein schmaler Streifen, Blumen erhoben sich aus dem ebenen Material, die geraden Kanten erhielten langgezogene Bögen.
Mit scharfem Werkzeug und spitzen Klingen zeichnete er Muster, die wie ganz kleine Blumen aussahen. Zarte, fein verschlungene Ranken verbanden alles miteinander. Nun wurde das flache Stück kunstvoll zu einem schlanken U gebogen, die beiden Enden erhielten je eine kleine, runde Mulde, die Zange zum Greifen. Es sah zauberhaft aus.
Der Silberschmied betrachtete sein kleines Kunstwerk, das da entstanden war.
Eigentlich ist es viel zu schade, um es zu verkaufen, dachte er. Zu gern würde er es seiner jungen Frau schenken. Aber mit seiner Arbeit verdiente er das nötige Geld, um seine Familie zu ernähren.
Kurze Zeit später betrat ein Edelmann den Laden des Silberschmieds. Er war auf der Suche nach einem Geschenk für seine Frau zum Weihnachtsfest.
Es sollte etwas ganz Besonderes sein. Sein suchender Blick fiel sofort auf das kleine, feine silberne Kunstwerk.
„Sagt mir Meister, was ist das?“, fragte er.
Der Meister erklärte ihm den Sinn dieser Zange und als sich der feine Herr nach dem Preis erkundigte, nannte er eine besonders hohe Summe. Er dachte, dass er sie dann noch eine Zeit für sich hätte. Dem Edelmann gefiel die Zuckerzange aber so außerordentlich gut, dass er sich von dem beachtlichen Preis nicht abschrecken ließ. Er kaufte sie in der Erwartung für seine Frau, ein besonderes Geschenk gefunden zu haben.
Viele Jahre gingen ins Land.
Die kleine Zuckerzange lag immer auf dem fein gedeckten Tisch, auf dem auch Kaffee oder Tee und eine Zuckerdose standen. Alle benutzten sie, um sich ein Stück Zucker aus der Dose zu nehmen, und jeder neue Gast bestaunte die feine Arbeit des Silberschmieds.
Die Frau wurde älter und gab die kleine Zuckerzange an ihre Tochter weiter und diese an ihre Tochter. Sie hatten sich an diese Kostbarkeit gewöhnt und benutzte sie auch hin und wieder. Doch mit der Zeit nahm man den Zucker einfach mit den Fingern aus der Dose. Die Dose wurde auch bald eingespart und der Zucker nur noch in ein Schälchen gefüllt oder gleich aus der Verpackung entnommen. Da die weiblichen Mitglieder der Familie immer mehr auf den Zucker verzichteten oder stattdessen nur noch Süßstoff nahmen, das sollte Kalorien einsparen und Pölsterchen verschwinden lassen, geriet die kleine Zuckerzange bald in Vergessenheit. Man legte sie in eine Schachtel und verstaute sie ganz hinten im Schrank.
Viele Jahre später kam bei einem Umzug und den Aufräumarbeiten die Schachtel mit der kleinen Zuckerzange wieder zum Vorschein. Die fiel einem jungen Mann der Familie in die Hände.
Viel zu schade zum Wegschmeißen, dachte er und drehte und wendete sie. Man müsste etwas anderes daraus machen. Er forschte im Internet und fand die Adresse eines Handwerkers, der altes Tafelsilber umgestaltete.
Nun wurde die kleine Zuckerzange wieder bearbeitet. Gereinigt, geglättet, poliert und nachbehandelt, sie wurde gestreckt, dann wieder gebogen. Nicht zu einer Zange, sondern zwei Bögen formten sie zu einem Reif. Die Enden, die jetzt flach waren, standen sich gegenüber und schimmerten leicht im Licht.
Am Weihnachtsabend legte der Mann den matt glänzenden Reif seiner Frau um das Handgelenk.
Als sie erkannte, was der Reif einmal gewesen war, kam auch die Erinnerung an die fein geschmückte Kaffeetafel ihrer Großmutter mit Zuckerdose und Zange zurück und das Weihnachtfest bekam einen ganz besonderen Glanz.
Originally posted 2020-12-07 09:57:00.