An einem Heiligabend-Nachmittag standen nur wenige Reisende auf dem Wismarer Bahnhof. Dabei waren eine junge Frau und ihre Tochter, ein Teenager mit schwarzer Wuschelfrisur. Sie warteten auf ihren Zug nach Hamburg.
Es war ein stürmischer, ungemütlicher Tag. Die Vierzehnjährige mit dem türkischen Namen Illayda, übersetzt Wasserfee, freute sich auf die Reise und auf ihre liebe Oma. Ihre Schulweihnachtsfeier war am Vortag, da wollte sie unbedingt mit ihrem Geigenspiel und als Weihnachtsfee dabei sein.
„Wie toll, der Zug ist sogar pünktlich“, sagte sie, und mit der Fahrkarte in der Hand hatte sie schnell das richtige Abteil gefunden. Ihren Plätzen gegenüber saß schon ein Paar. Nach dem Gutentag-Gruß las die Frau mit den freundlichen Augen in ihrem Buch amüsiert weiter. Der bärtige Mann neben ihr war ernsthaft mit seinem Laptop beschäftigt.
Draußen war es fast dunkel und der Sturm heulte heftig.
Nach einer längeren Reisezeit machte sich eine ansteckende Müdigkeit breit und veränderte den Raum unmerklich in ein Schlafabteil. Keiner hörte die tobenden Windböen beim eintönigen Rattern des Zuges. Bis sie plötzlich vom schrillen Kreischen und Quietschen und dem Ruck des anhaltenden Zuges wachgerüttelt und -geschüttelt wurden. Keiner und nichts blieb an seinem Platz sitzen oder liegen. Blitzschnell war das reinste Chaos um sie herum. Offene Gepäcktaschen entleerten sich am Boden. Mittendrin ein leerer Fächerkarton.
Nach dem allseits überwundenen Schreck starrten alle auf die einzige heile Kugel in den Scherben. Illayda sah, wie auffallend traurig die fremde Frau aussah, hob die Kugel auf und überreichte ihr diese. In Sekundenschnelle wich die Traurigkeit aus ihrem Gesicht und mit unerwartet liebenswerten Worten sprach sie die Vierzehnjährige an: „Darf ich dir diese Kugel schenken, wir sind sicher alle dankbar dafür, dass wir ebenso unversehrt geblieben sind“.
Illaydas Mutter reagierte empathisch und fand es in diesem Moment passend, sich und ihre Tochter dem Paar bekannt zu machen: „Mein Name ist Birgit und Illayda heißt meine Pflegetochter.
Sie kam mit zweieinhalb Jahren übers Jugendamt zu mir. Ich war sehr glücklich, da es als Singlefrau schwierig ist, ein Kind vermittelt zu bekommen.
Ohne große Pause stellte sich die freundliche Frau ebenso mit ihrem Vornamen vor: „Ich heiße Miri, eine Kurzform von Mirjam, der Maria Magdalena. Bei dem Schreck vorhin waren in mir Ängste hochgekommen. Als Kind kam ich von heute auf morgen von Deutschland zu Verwandten in die Niederlande und durfte ab sofort nur noch holländisch sprechen. Später beim Sprachstudium kam mir das sehr zugute“. Ihr Partner schloss sich nahtlos an: „Ich heiße Burhan, genau wie mein Großvater.“ Danach kam die erste Zugdurchsage: „Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, ein vom Sturm umgestürzter Baum blockiert das Gleis. Wir melden uns wieder. Ende der Durchsage.“
Burhan fügte noch hinzu: „Meine Kinder- und Jugendjahre habe ich mit meinen Eltern und dem Großvater in Amerika verbracht. Von meinem Großvater hatte ich das meiste über unseren Glauben erfahren. Zum nächsten Frühjahr plane ich eine Reise nach Mekka, und frage mich oft, wie ich mich dabei fühlen werde“.
Daraufhin wandte sich Birgit verständnisvoll an Burhan: „Diese Fragen könnten auch mal für Illayda wichtig werden, da ihre leibliche Mutter aus der Türkei stammt und ihr Vater aus Ghana. Mit mir lebt Illayda im christlichen Glauben, wie meine Familie“.
Inzwischen war das Chaos im Zugabteil bereinigt. Burhan bot allen ein aromatisches Getränk aus seiner großen Thermoskanne an. Birgit verteilte den selbst gebackenen Apfelkuchen auf festlichen Servietten. Derweil suchte Miri etwas Bestimmtes in ihrem Gepäck. Fündig geworden wandte sie sich an Illayda: „Hast du Lust, mit mir Weihnachtssterne zu basteln?“ Das war keine Frage! Beide zauberten eine Vielzahl gelbglänzender Sterne.
Als Burhan etwas sagen wollte kam die nächste Zugdurchsage: „Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, wir bedanken uns für ihre Geduld. Der Schaden wurde behoben, in einer Stunde werden wir in Hamburg sein. Wir wünschen ihnen angenehme Festtage. Ende der Durchsage.“
Danach setzte Burhan mit feierlicher Mine erneut an: „Es ist wie ein kleines Wunder, trotz Hektik und Aufregung auf dieser Fahrt sind wir in diesem Zugabteil zufällig zusammengekommen mit unseren unterschiedlichen, kulturellen Hintergründen. Empathisch und offen haben wir uns eine festliche Atmosphäre geschaffen an diesem Heiligabendtag. Wäre ein Urahne zugegen gewesen, hätte er Wohlgefallen an unserer Viererrunde gehabt.“
Daraufhin überreichte Miri ihrem Burhan ein Buch mit muslimisch-
humoristischen Texten. Sichtlich erfreut dankte er ihr: „Das ist die beste Medizin vor meiner Reise.“
Danach, fast gleichzeitig, kam von allen die Idee Telefon- und Maildaten auszutauschen mit der Andeutung im kommenden Jahr Heiligabend und Weihnachten miteinander zu verbringen.
Nach einem Jahr freundschaftlicher Verbundenheit trafen sie sich vertrauter und gut vorbereitet zum nächsten Fest wieder.
Originally posted 2020-12-09 08:33:00.